Jüdisches Archivwesen

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Art.-Nr. BU0138
Gewicht: 0.676 kg
ISBN: 3923833105

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Produktinformationen "Jüdisches Archivwesen"

Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 45
Beiträge zum Kolloquium aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden, 2007
Frank M. Bischoff : 2007, 430 Seiten


Auszug aus der Einleitung

Jüdisches Archivwesen im eigentlichen Sinne des Wortes als eine auf die Erhaltung und Erschließung des in allen Bereichen des jüdischen Lebens entstandenen Schriftguts gerichtete institutionelle Tätigkeit nahm in Deutschland mit der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden am 1. Oktober 1905 seinen Anfang. Dieses Datum jährte sich im Herbst 2005 zum hundertsten Mal. Der Zentralrat der Juden in Deutschland und das in seiner Trägerschaft 1987 in Heidelberg entstandene Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland nahmen dieses Jubiläum zum Anlass für eine fachliche Selbstbesinnung sowohl im historischen Kontext als auch im internationalen Vergleich, wobei sie von der Archivschule Marburg unterstützt wurden, die durch Aufnahme in die Reihe ihrer Archivwissenschaftlichen Kolloquien den archivpolitischen und archivfachlichen Stellenwert der Veranstaltung unterstreichen wollte.

Früher noch als in Deutschland begann man in den USA mit der systematischen Suche und Archivierung von jüdischem Quellenmaterial. Die 1892 ins Leben gerufene American Jewish Historical Society schuf einen organisatorischen Rahmen sowohl für die Archivierung als auch für die Auswertung und Publikation von Quellen zur Geschichte der Juden in Amerika. In Europa wie auch in Amerika hat sich im zurückliegenden Jahrhundert, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dann mit zunehmender Intensität, eine organisatorisch und institutionell recht vielgestaltige Tätigkeit zur Sicherung und Nutzbarmachung des für die jüdische Historiographie relevanten Quellenmaterials entfaltet. Abgesehen von wenigen Publikationen zur Geschichte einzelner Sammlungen,  Institutionen  und Persönlichkeiten  ist die Selbstreflektion des Fachgebiets Jüdisches Archivwesen über vereinzelte Ansätze bisher nicht hinausgekommen.  Die Lang-samkeit des Erkenntnisfortschritts hängt nicht nur mit dem in Deutschland durch die NS-Zeit bewirkten Kontinuitätsbruch zusammen. Es gibt auch Gründe, die in der Sache selbst liegen. Der jüdische Zweig des Archivwesens ist relativ jung und von vergleichsweise geringem Umfang. Die in diesem Bereich tätigen Personen sind hinsichtlich der spezifischen Aspekte ihrer Beschäftigung weitgehend isoliert voneinander und fühlen sich auch kaum einer historischen Tradition zugehörig. Eine Kommunikationsgemeinschaft finden sie eher in den jeweils nationalstaatlich organisierten Archivarsverbänden als in Zusammenschlüssen, die von der jüdischen Besonderheit ihrer Aufgaben geprägt sind. Dieses Defizit an historischer Besinnung und grenzüberschreitender Kommunikation wenigstens im Ansatz zu beheben, schien ein wissenschaftliches Kolloquium ein geeigneter und im Sinne der fachlichen Konturierung sinnvolles Unterfangen zu sein. Als Leitlinie diente dabei stets die Frage nach den für das Jüdische Archivwesen spezifischen Entwicklungen und Merkmalen.

Jüdische Archive unterscheiden sich von anderen zunächst hinsichtlich ihrer Organisationsformen. Wenn es um die Verwahrung der innerjüdisch entstandenen Quellen geht, so äußern sich die spezifischen Probleme in einer stets latenten Standortdebatte. Am Ort der Entstehung von Schriftgut, sind in der Regel nicht die Mittel für eine fachlich korrekte Archivierung vorhanden. Die Konzentration der Kräfte und die Schaffung von Zentralarchiven geraten auf der anderen Seite regelmäßig mit den orts- bzw. heimatgeschichtlich orientierten Auswertungsvorhaben in Konflikt. Aber auch die eher bestandsübergreifenden Fragestellungen der wissenschaftlichen Historiographie üben erheblichen Einfluss auf die Standortfrage aus. Im Laufe der Zeit haben sich im wesentlichen drei Typen von jüdischen Archiven herausgebildet, die in der dafür vorgesehenen Sektion vorgestellt werden, nämlich

-     solche, die auf lokaler oder regionaler Ebene arbeiten (am Beispiel von Philadelphia),
-     solche die sich als Zentren für alle jüdischen Gemeinden, Verbände und Einrichtungen eines
      Nationalstaats verstehen (am Beispiel des Gesamtarchivs),
-     und solche, die weltweit operieren (am Beispiel der Central Archives in Jerusalem).

Jüdische Archive unterscheiden sich aber auch hinsichtlich der in ihre Obhut gelangenden Quellen. Erinnert sei hier nur an den besonderen Stellenwert, den in der jüngsten Vergangenheit Zeitzeugenberichte und Grabinschriften erlangt haben. Während zu den Zeitzeugenberichten ein Beitrag von Feliks Tych aus Warschau in den vorliegenden Band aufgenommen werden konnte, musste auf den ursprünglich geplanten Beitrag über den Quellenwert von jüdischen Grabinschriften leider verzichtet werden.

Auch hinsichtlich der von jüdischen Archiveinrichtungen angewandten Arbeitsmethoden und –techniken lassen sich einige Besonderheiten oder zumindest Akzentuierungen ausmachen. Im Unterschied zum öffentlichen Archivwesen arbeiten jüdische Archivare in einem weitgehend ungeregelten Raum. Es gibt keine klar definierten Zuständigkeiten. Und es gibt auch keine Abgabevorschriften für die jüdischen Gemeinden, Verbände und Einrichtungen. Wie sehr die Überlieferungsbildung unter diesen Umstände auf die Arbeit mit Depositalverträgen angewiesen ist, und welche Konsequenzen dieses rechtliche Mittel für die nachfolgende Kommunikation mit den Benutzern im Zeitalter von Datenschutz hat, führt Peter Honigmann nachdrücklich vor Augen. Aubrey Pomerance andererseits weist auf die neue Rolle von Museen bei der Quellensammlung hin. Aufgrund ihrer herausgehobenen öffentlichen Sichtbarkeit haben sie gegenüber Privatpersonen einen erheblichen Imagevorteil, der spürbar die Übernahme von Familienpapieren erleichtert.

Aber auch die Mikrofilmtechnik ist heute ein gängiges Mittel, um spezifisch jüdische Archivprobleme zu lösen. Mit der Verlagerung des intellektuellen und demographischen Schwerpunkts des jüdischen Volkes nach den USA und Israel manifestierte sich nach 1945 der Wunsch, die Quellen oder wenigstens umfangreiche Kopien in die neuen Zentren zu bringen. Diese Problematik bildet den Hintergrund der Vorträge von Jürgen Sielemann und Marek Web in der Sektion Displaced Archives. Einmal geht es um die aus Israel geltend gemachten Ansprüche auf das in Hamburg gerettete Archiv der Vorkriegsgemeinde. Und zum andern um die Sammeltätigkeit des während des Krieges von Wilna nach New York umgesiedelten YIVO-Instituts im Nachkriegseuropa. Jüngstes Beispiel dieser Tendenz ist das umfangreiche Verfilmungsprogramm des Holocaust Museums in Washington, worüber Henry Mayer berichtete. Andere Quellen wiederum sind im Zuge von Krieg und Verfolgung zum Teil heute noch in fremdem Besitz, darunter etwa die recht umfangreichen deutsch-jüdischen Bestände in einem Moskauer Sonderarchiv, was Gegenstand der Ermittlungen von Elijahu Tarantul ist. Manches ist auch nur noch als Filmkopie vorhanden, wie z. B. die vom Reichssippenamt eingezogenen, auf Juden bezüglichen Personenstandsregister. Sie wurden Anfang der 40er Jahre von der Firma Gatermann verfilmt. Seit Kriegsende müssen die Originale als verloren gelten. Über die sehr lange und komplizierte Nachkriegsgeschichte der Verwaltung und Nutzbarmachung dieser Gatermann-Filme hat Hartmut Heinemann in der Sektion Spezielle Quellengruppen einen kenntnisreichen Überblick geliefert.