Alte und neue Kontexte der Erschließung
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VÖ: 70 - Beiträge zum 26. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg
Vorwort
von Irmgard Christa Becker
Das 26. Archivwissenschaftliche Kolloquium mit dem Titel „Alte und neue Kontexte der Erschließung“ hatte das Ziel darzustellen, wie sich die archivarische Fachaufgabe Erschließung angesichts der Digitalisierung und neuer Nutzungsanforderungen verändert. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die Beiträge des Kolloquiums zugänglich zu machen. Sie werden in der Reihenfolge abgedruckt, in der die Vorträge gehalten wurden. Die Beiträge zeigen in welchen vielfältigen Formen sich die Erschließung verändert. Die Bandbreite der Themen reicht von grundsätzlichen Überlegungen zum Einfluss digitaler Technologien auf die Erschließung im Eröffnungsvortrag von Jenny Bunn. Sie weist auch darauf hin, dass in einer vollständig digitalen Welt Archivalien und Metadaten aus Daten bestehen, die nur noch definitorisch unterschieden werden und alle maschinell verarbeitet werden können. Den Vortrag von Christian Keitel am Ende des Kolloquiums kann man als ebenso grundsätzliche Darstellung sehen. Er diskutiert den Unterschied zwischen Erschließungsinformation und Metadaten. Dabei beschreibt er, dass Erschließungsinformation zunehmend als Metadaten bezeichnet wird. Metadaten zu digitalen Archivalien können aber viel mehr Angaben, z.B. zur Provenienz enthalten, als Erschließungsinformation. Der Autor kommt zum Schluss, dass noch nicht entschieden ist, ob sich die Archivare die hinter den Begriffen aus der digitalen Archivierung stehenden Konzepte für Metadaten zu eigen machen möchten oder nicht.
Der Beitrag von Thomas Henne bietet einen Überblick über die Rechtsfragen der Erschließung. Er zeigt Möglichkeiten auf, wie sensible Erschließungsdaten besser zugänglich gemacht werden können. Die Beiträge von Karsten Uhde und Mareike Petersen gehen auf unterschiedliche Weise auf Nutzerbedürfnisse ein. Uhde plädiert aus seiner Nutzungserfahrung für die Lehre an der Archivschule für eine tiefe Erschließung und für die Nutzung von Funktionalitäten, die aus gängigen Online-Shops bekannt sind, wie Verweisen auf ähnliche Unterlagen und Hinweise auf andere Schreibungen. Darüber hinaus fordert er die Weiterentwicklung der Erschließung im Kontext der anderen Fachaufgaben und Zusammenarbeit der Archive. Petersen stellt eine Gesamtstrategie nutzergetriebene Erschließung aus dem Museum für Naturkunde - Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung in Berlin vor. Die Strategie umfasst einen Mindeststandard für die Sammlungserschließung, Überlegungen zur nutzergetriebenen Tiefenerschließung und zu einem digitalen Sammlungskatalog. Darüber hinaus soll ein Datenportal und eine Forschungsdateninfrastruktur entstehen. Alle diese Maßnahmen sollen die Sammlung für diverse definierte Nutzergruppen besser zugänglich machen.
Karsten Kühnel zeigt einen Sonderfall der Erschließung im Lastenausgleichsarchiv, der durch die Annahme von bestimmten Nutzungsinteressen bestimmt ist. Die dortigen Bestände werden als funktionale Provenienzen aufgrund der Aufgaben Schadensfeststellung und Entschädigungsleistung in Kombination mit Angaben zur Lastenausgleichsbehörde erschlossen. Ein weiteres Merkmal der Zuordnung sind positiv und negativ beschiedene Fälle. Der Autor streicht heraus, dass das Merkmal der funktionalen Provenienz auch bei rasch wechselnden Organisationsstrukturen oder anderen Phänomenen mit unklaren institutionellen Provenienzen eingesetzt werden kann.
Stephanie Bonsack und Michael Koltan zeigen wie neue Technologien zur Erschließung eingesetzt werden können. Bonsack stellt das Projekt der Gesichtserkennung durch Zuordnung von Personennamen zu Bildern beim Archiv des Bayerischen Rundfunks vor. Sie beschreibt die Rollen des KI-Managements bei der Entwicklung der KI-Software, bei deren Training, bei der Einbringung der gewonnen Kompetenzen in weitere Projekte im Haus und der Vermittlung zwischen den Mitarbeitern und der KI und stellt fest, dass die Nutzung von KI-Software die Aufgaben massiv verändert. Koltan beschreibt ein letztlich gescheitertes KI-Projekt, das zum Ziel hatte, in einem freien Archiv Personen, Körperschaften und Orte automatisiert aus dem digitalisierten Archivgut zu extrahieren und Normdaten der GND zuzuordnen. Dabei hat er festgestellt, dass WikiData die korrekte Identifizierung der Personen wesentlich besser bewältigt als die GND, weil es wesentlich mehr Personenbeziehungen gespeichert hat. Daraus folgt das Plädoyer WikiData als öffentliche Ressource zu führen, um die darin enthaltenen Daten dauerhaft der Allgemeinheit zugänglich zu machen.
Nutzerfreundliche Präsentationen von Archivgut sind das Thema des Beitrags von Mirjam Sprau und Kevin Dubout. Sie zeigen am Beispiel zweier Themenportale des Bundesarchivs wie die Verschlagwortung durch einen systematisch erarbeiteten inhaltlichen Thesaurus die oft spröde Sprache der Provenienzstellen sinnvoll ergänzen und diskriminierende Begriffe in den zeitgeschichtlichen Kontext einordnen können. Diese semantischen Standardisierung der Erschließung schafft einen Mehrwert, der zu einer weiteren Professionalisierung der Erschließung führen kann.
Martin Enzenauer und Thomas Throckmorton zeigen am Beispiel des Projekts Zettelschwärmer des Marchivum, wie Crowdsourcing durch ein Zusammenspiel von Bürgerbeteiligung, Image-Gewinn und archivfachlichem Ertrag erfolgreich gestaltet werden kann. Sie gehen durch die Einbeziehung der Nutzer in die Erschließung noch einen Schritt weiter als das Bundesarchiv und schaffen damit eine Möglichkeit die knappen Ressourcen für die Erschließung zu erweitern.
In der Gesamtschau zeigt sich ein bunter Strauß von Überlegungen, Ansätzen und Konzepten, die geeignet sind, die archivarische Fachaufgabe Erschließung in und für eine digitale Welt weiterzuentwickeln.
Becker, Irmgard Ch.; Lehrmann, Florian; Meier, Robert; Uhde, Karsten (Hrsg.)
Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 70
2023, 192 S.